... dann kann ich machen, was ich will!
Dieser Wettbewerbsbeitrag der Klasse 8 der Mira-Lobe-Schule in Dortmund, einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, möchte neben gesellschaftskritischen Überlegungen zur Situation unserer Schüler*innen auch den Fokus auf die flexiblen Formen des kreativen Ausdrucks, des In-Kontakt-Tretens, der Inhaltsvermittlung, des Miteinander-Kommunizierens und des Niederlegens von Gedanken legen.
Zu enge Sichtweisen und leistungsorientierte gesellschaftliche Normen schränken die Schüler*innen sehr in ihrem Leben ein und stellen einen starken Kontrast zum Freiheitsgedanken dar, der eine „bunte Gesellschaft“ ermöglichen und stärken sollte.
Der 18. Geburtstag ist ein besonderer Tag, an diesem Tag wird man in Deutschland volljährig. Dies bedeutet, dass man ab diesem Zeitpunkt in der Regel alle Rechte und Pflichten eines Erwachsenen hat und für sein Handeln selbst verantwortlich ist. Volljährige Menschen können beispielweise Verträge schließen, ihren Führerschein machen oder heiraten. Das magische Alter „18 Jahre“ hat für unsere Schüler*innen einen besonderen Reiz. Sie befinden sich aktuell in der Pubertät, die Abgrenzung vom Elternhaus ist in vollem Gange und der Traum, mit 18 endlich all das machen zu können, „was ich will“ beflügelt. Dieser Satz aus dem Mund einer Schülerin der Klasse macht die Sehnsucht nach Freiheit überdeutlich. Allerdings werden unsere Schüler*innen ab dem Alter von 18 Jahren in den meisten Fällen eine Betreuung in zentralen Bereichen ihres Lebens erhalten, sodass das Ausmaß ihrer Selbstbestimmung abhängen wird von Kompetenzen und dem Engagement der ihnen an die Seite gestellten Personen.
Für die Gestaltung der einzelnen Seiten des Beitrags haben die Schüler*innen kurze individuelle Texte im Sinne des erweiterten Schreibbegriffs (mündlich, schriftlich, grafisch) geschrieben. Dieser Schreibmodus entspricht der Erfahrungswelt der Schüler*innen, ist motivierend und ermöglicht neue Gestaltungsformen. Die Kombination von Texten, Bildern und Tönen erfüllt deutlich mehr Grundbedürfnisse, als es reine gedruckte Texte können. Das Schreiben mit neuen Medien bietet zudem vielfältige Präsentationsmöglichkeiten im Sinne einer kommunikativ-sozialen Handlung. Aus der Darstellung von Texten, Bildern und Tönen durch neue Medien resultieren neuartige künstlerische Konzeptionen, die im Sinne einer neu interpretierten „künstlerischen Freiheit“ Betrachtende herausfordern.
Freiheiten im individuellen Lebensentwurf
Die Träume und Wünsche unserer Schüler*innen unterscheiden sich wenig von denen Gleichaltriger. Träume und Fantasien sind wichtig und ein starker Motivator.
„Es wird einem also irgendwie immer suggeriert, dass es sich bei einem „Traum“ um etwas Entferntes oder Unerreichbares handelt. Das kommt wahrscheinlich daher, weil man meist, wenn man anfängt einen Traum zu formulieren, noch sehr weit weg davon ist, diesen Traum in seine eigene Realität zu holen. Dennoch ist es möglich aus einem Traum auch eine Wirklichkeit zu machen, wenn man daran glaubt und es auch schafft, andere Menschen davon zu überzeugen, an die Erfüllung seiner Träume zu glauben. (…) Und das ist das Schöne an Träumen: Sie müssen nicht logisch oder rational sein, um zu funktionieren. Ich glaube, man ist niemals zu alt, um Träume zu haben. Aber gerade in jungen Jahren ist es mitunter das Wichtigste, einen Traum zu haben. Eltern, Lehrer, Mitschüler – alle können versuchen einen zu besseren (…) Leistungen zu motivieren, aber ein Schüler oder eine Schülerin wird sich nie so anstrengen, wie von dem Zeitpunkt an, an dem er oder sie versteht, dass das dabei helfen könnte, später einmal den Beruf auszuüben, von dem er oder sie träumt. Träume sind das Licht, das uns dazu bringt, uns anzustrengen, uns über uns hinauswachsen lässt und uns Hoffnung schenkt, in Momenten, in denen wir vielleicht nur Dunkelheit sehen.“ (SIMONETTI, 2020)
Allerdings weicht die Realisierung dieser Träume im „echten Leben“ bei Gleichaltrigen teils stark von den Möglichkeiten unserer Schülerschaft ab. Durch ihre persönlichen und gesellschaftlichen Einschränkungen sind sie beruflich, in ihrer politischen Teilhabe und auch in ihrem privaten Lebensentwurf massiv eingeschränkt und meist ohne große Wahlmöglichkeiten. Diese Diskrepanz ist bei unserer Schülerschaft ein zeitloses Thema über Schülergenerationen hinweg, man kann es nicht ausblenden, es ist leider (immer noch) vorhanden. Auch die Corona-Pandemie hat die Einschränkungen in der persönlichen Freiheit und in den Möglichkeiten, die die Gesellschaft ihnen im Vergleich zu Gleichaltrigen bietet, nochmal eindrücklich vor Augen geführt.
Freiheit stößt demnach nicht nur an ihre Grenzen, wo die Rechte anderer verletzt werden, sondern auch dort, wo beengte/ eingeschliffene/ antiquierte Sichtweisen von vermeintlicher „Normalität“ eine immer bunter werdende Gesellschaft einschränken.
Freiheit und Wertschätzung des individuellen kreativen Ausdrucks
Häufig liegt der elterliche (und gesellschaftliche) Fokus des Schulbesuchs darauf, „endlich Lesen und Schreiben zu lernen“. Dabei wird nicht beachtet, dass dies unseren Schüler*innen aus verschiedensten Gründen manchmal auch bis zum Ende der Schulzeit nicht in gesellschaftlich akzeptiertem Maße möglich ist. Sie verfügen aber über andere Formen der Kommunikation, des Ausdrucks und des „sich-die-Welt-Erschließens“, die durch die technischen Errungenschaften (Diktier- und Vorlesefunktion, Talker – digitale Sprachausgabegeräte) zudem einem begrüßenswerten Wandel unterliegen.
Die Schüler*innen unserer Schulform schreiben entsprechend dem erweiterten Lese- und Schreibbegriff nach HUBLOW bzw. GÜNTHNER gemäß ihren Fähigkeiten auf unterschiedlichsten Ebenen.
„Schreiben“ ist in einer erweiterten Form als eine sinnvolle Aneinanderreihung bzw. Anordnung gegenständlicher grafischer Elemente zu verstehen, denen jede*r Leser*in eine bestimmte Bedeutung entnehmen kann. „Schriftliche“ Mitteilungen werden also auch z.B. mit Hilfe von Gegenständen, (vorgefertigten) Bild-, Symbol- und Wortkarten, gemalten Bildern und Tonaufnahmen möglich. Für den Kommunikationsprozess ist die Erfahrung, selbst aktiv zu werden und Botschaften schreiben zu können, von eminenter Bedeutung. Die Erfahrung, eigene Gedanken und Vorstellungen nicht nur verbal, sondern auch in eigenen Produktionen aus verschiedenen Materialien weitergeben zu können, beflügelt viele Schüler*innen im Schreib- und Mitteilungsprozess und ermöglicht ihnen durch den Wegfall überfordernder Erwartungen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Dabei werden schriftliche, mündliche und grafische Textproduktion nicht als konkurrierende Ansätze, sondern als sinnvolle Ergänzungen gesehen. Die sich ergebenden reizvollen collagenartigen Gestaltungen bedienen als eigene Kunstform ästhetische Bedürfnisse der Schreibenden und Lesenden.
Bei den Schüler*innen lässt sich beobachten, dass sie gerne entsprechend ihrer individuellen Möglichkeiten Texte produzieren, dies aber selten eigenmotiviert tun. Daher sollen kommunikative Schreibanlässe unter Einbezug neuer Medien geschaffen werden, in denen die Schüler*innen in verschiedenen Variationen Texte verfassen und so ihre Schreibmotivation erhöhen können. Vor allem im Hinblick auf die außer-/ nachschulische Perspektive ist es für die Schüler*innen wichtig textproduktive Kompetenzen zu erwerben, um nach den grundlegenden pädagogischen Leitlinien (Normalisierungsprinzip, Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, Inklusion) möglichst selbstständig leben zu können.
In diesem Wettbewerbsbeitrag werden Textprodukte verschiedenster Art miteinander kombiniert und neben der analogen Schreibform auch die digitale mit einbezogen. Diese bietet weitere Möglichkeiten für unsere Schülerschaft, sich kreativ zu Wort zu melden. Durch die Schüler*innen diktierte Texte werden mit entsprechenden Programmen automatisch in Schrift umgewandelt, Sprachaufnahmen können eingebunden werden und das Tippen von Texten, das Einbinden von Fotos und Icons, die digitale Bildbearbeitung sowie die Zeichenfunktion (Kritzeln/ Malen) ermöglichen weitere kommunikative Aussagen und bieten zudem feinmotorisch eingeschränkten Schüler*innen Alternativen zum komplexen graphomotorischen, manchmal kräftezehrenden Abbild von Schrift.
Zudem werden so im Sinne der Barrierefreiheit Textprodukte geschaffen, die von unserer Schülerschaft auch gelesen werden können. Rein schriftlicher Text hat für einige Schüler*innen wenig Aussagekraft. Eine Kombination aus geschriebenem Text, Bildern/ Icons und Textprodukten in gesprochener Sprache fördert im Sinne der Literacy-Erziehung das Interesse an Literalität und vor allem die Freude am Lesen (im erweiterten Sinne). Und auch die lesende Öffentlichkeit kann mit diesen Textprodukten ihre Sehgewohnheiten erweitern und „neue Wege des Ausdrucks beschreiten“.
Klasse 8
Quelle:
AUSWÄRTIGES AMT, AUFBAU DIGITAL (2020). Ich habe einen Traum – I have a Dream –, mit Vorwort von Riccardo SIMONETTI, Altersgruppe 11 bis 14 Jahre, ISBN 978-3-8412-2633-4, Aufbau Verlag, Berlin
METACOM Symbole © Annette Kitzinger